Meret Oppenheim ist eine der bekanntesten Künstlerinnen überhaupt, sie hat Ihren Platz in derselben Liga wie Frida Kahlo, Louise Bourgeois, Cindy Sherman, Marina Abramović oder Camille Claudel. Ihre bekannte Pelztasse Le déjeuner en fourrure ist die Ikone des Surrealismus, die Fotos von Man Ray, in denen sie nackt und mit geschwärztem Oberarm an der Druckerpresse steht, sind Kult. Meret Oppenheim fasziniert seit Generationen Menschen auf der ganzen Welt und quer durch alle Gesellschaftsschichten. Man hat den Eindruck, sie bediene zahlreiche Wünsche, Träume und Phantasien. Sie wirkt auch als ideale Projektionsfläche, weil sie mit ihren Ideen und Gedanken das Bild des Künstlers – vor allem des weiblichen Künstlers – revolutionierte und zahlreichen zeitgenössischen und späteren Künstlerinnen zu einem neuen Selbstbewusstsein verholfen hat.

Dass es zu dieser Prominenz kam, ist alles andere als selbstverständlich. Zwar wuchs Meret Oppenheim in einem gutbürgerlichen Milieu auf, das schon früh auf ihre künstlerischen Interessen einging und ihren expliziten Wunsch, Künstlerin zu werden, ernst nahm. [...] Als der Vater ihr die Wahl lässt, sich in Paris oder München zur Künstlerin auszubilden, entscheidet sich Meret Oppenheim für Paris. Es dauert einige Zeit, bis sie Anschluss an die dortigen Künstlerkreise findet, in der Anfangszeit ist oft von einsamen Momenten die Rede. Dann scheint alles recht schnell zu gehen. [...] Meret Oppenheim wird zu Ausstellungen eingeladen, entwickelt eigene Ideen, lässt sich von anderen Künstlern und ihren Arbeiten inspirieren und findet in diesen wenigen Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihren künstlerischen Ausdruck. Das Unbewusste hat in dieser Zeit bei ihren surrealistischen Freunden Hochkonjunktur, und auch sie stellt die Weichen nicht bewusst. Aber bis zu ihrer Rückkehr in die Schweiz entstehen ikonische Werke wie Le déjeuner en fourrure (die legendäre Pelztasse), Ma gouvernante - my nurse - mein Kindermädchen, Steinfrau und der Tisch mit Vogelfüssen – Werke, die ihr zum internationalen Durchbruch verhelfen, die sie ein Leben lang nicht mehr loslassen und die sie manchmal auch verwünschen wird.

Während des Krieges beschliesst Meret Oppenheim, in Basel die Kunstgewerbeschule zu besuchen, um die im Eigenstudium erworbenen Fähigkeiten zu vertiefen. Gleichzeitig erlebt sie die ersten Jahre eine langen Krise, in der sie vieles erschafft, aber auch vieles wieder vernichtet. Später wird sie sagen, sie habe in jener Zeit die Last der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau verspürt und sich davon befreien müssen. Tatsache bleibt, dass auch in diesen Krisenjahren zahlreiche wichtige Werke entstehen, die ihre Kunst prägen: Arbeiten, die politische, soziale und kulturpolitische Aspekte thematisieren.

Nach einer schlaflosen Nacht ist 1954 die Krise abrupt beendet und Meret Oppenheim mietet sich wieder ein Atelier. Ende der Fünfzigerjahre befreit sie sich vom Surrealismus, ohne aber mit den Protagonisten von damals den Kontakt abzubrechen – die Freundschaften bestehen weiter. Als Künstlerin jedoch orientiert sie sich neu, obwohl das Unterbewusste für sie immer von zentraler Bedeutung bleibt. Sie, die selbst gesagt hat, die Freiheit werde einem nicht gegeben, man müsse sie nehmen, löst sich aus zahlreichen Pflichten und Zwängen, lebt als Frau und als Künstlerin gemäss ihren eigenen Vorstellungen und realisiert in ihren letzten 25 Jahren ein dichtes und spannendes Werk, das oft als blasse Fortsetzung ihrer frühen Arbeiten (miss)verstanden wird. Dabei haben Bilder und Objekte wie Das Geheimnis der Vegetation (1972), Teich in einem Garten (1975), Termitenkönigin oder der Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz von 1983 in ihrem Werk die gleiche ikonische Bedeutung wie die Pelztasse oder das Foto von Man Ray. Nur mit dem Unterschied, dass Kunstgeschichte und Kunstmarkt ihrem Spätwerk bisher zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht haben [...].

Aber das Ikonische liegt in Meret Oppenheims späteren Jahren noch woanders: in ihr selbst. Sie wurde zu einem Vorbild für junge Künstler und liess ihrerseits keine Gelegenheit verstreichen, junge Kunstschaffende zu unterstützen. So auch in ihrer viel beachteten Dankesrede für den Basler Kunstpreis 1975, die sie dem jungen Künstler und speziell dem weiblichen Künstler widmete. [...]

Unbewusstes, Traum, Realität, Freiheit, Unabhängigkeit, Schönheit, Trauer – Begriffe, die im Leben und Werk von Meret Oppenheim wiederkehren. Obwohl uns dieses Werk auf den ersten Blick einfach erfassbar und gedanklich logisch erscheint, ist es bei konzentrierter Beschäftigung doch sehr komplex, assoziativ, poetisch und vielschichtig. Auch dafür ist die Pelztasse symptomatisch: Sie oszilliert zwischen Verlockung und Abneigung, wie das gesamte Werk und auch die Person von Meret Oppenheim. Man ist von ihrem Werk entweder fasziniert oder empfindet es als marginal, zwischen diesen beiden Polen bleibt nicht viel. Aber verstanden wird sie von vielen nach wie vor nicht [...].

Auszug (gekürzt) aus:
Baur, Simon; Fluri, Christian: Pelzige Schlangenlinien durch das Unbewusste. Zu Meret Oppenheim. Eine Einführung, in: Meret Oppenheim. Eine Einführung, Baur; Fluri (Hrsg.), Christoph Merian Verlag, Basel 2013.